Verhalten ist Kommunikation

Verhalten ist Kommunikation

Fred lebt mit seinen Eltern in den USA. Seine deutsche Mama erzählt von dem Sozialsystem der Vereinigten Staaten und dessen Schwierigkeiten vor allem im Hinblick auf die kommenden Jahre. Sie beschreibt welche Vorteile aber auch welche Schwierigkeiten es mit sich bringt, dass Fred körperlich so fit und aktiv ist. Ein besonders wichtiger Appell von Fred´s Mama ist es Menschen mit STXBP1 ernst zu nehmen, sich wirklich auf sie einzulassen, Verhaltensweisen deuten und verstehen zu lernen. 


Wie alt ist dein Sohn? 

Fred ist 24 Jahre alt, im März wird er 25.


Wann habt ihr die Diagnose erhalten? 

Im September 2017 erst, als Fred 20 war, haben wir die Diagnose bekommen.


War das ein Zufallsbefund oder lief zu der Zeit erneut Diagnostik?

Das war so, dass Fred Anfälle hatte bis er 2 Jahre alt war und dann keine mehr. Danach wurde bei ihm die Diagnose “Nonverbaler Autist” gestellt. Das war die Diagnose bis er 20 Jahre alt war. 

Im Alter von 18 Jahren kamen die Anfälle zurück. Es war dann die große Frage, was die Anfälle ausgelöst hat. Die Pubertät, in der eine Epilepsie häufiger auftreten kann, hatte er schon hinter sich. 

Das war der Auslöser, warum die Ärzte bei Fred eine genetische Diagnostik machten. Sie hatten auch schon viel früher, als er klein war, genetisch geschaut, z.B. nach dem Angelman Syndrom. Das war aber wohl noch zu früh, um etwas wie STXBP1 zu finden. 

Die Neurologin sagte auch mal, dass man bei ihr selbst und mir wahrscheinlich mehr Auffälligkeiten in den Genen finden würde, als in seinem Panel. Von ihr kamen öfter solche Aussagen, die mich ganz verrückt gemacht haben. Zum Beispiel hatte sie mal nach einem MRT gesagt, dass Freds Gehirn das schönste Gehirn sei, das sie in ihrer Karriere je gesehen habe. Es sehe so perfekt aus.

Das zeigt aber auch, dass die STXBP1 Genmutation so schwer zu finden ist.

Und so wurden wir als Eltern und Fred 2017 getestet. Da wurde dann die “de novo”, also zufällig entstandene, Genmutation STXBP1 gefunden. 


Hat Fred noch Geschwister?

Ja, er ist der Älteste und hat noch einen Bruder, der ist 18 und eine Schwester, die ist 22. Die beiden sind völlig “normal”. Mit ihren ganz gewöhnlichen Problemen, als Teenager und so (lacht). Weil die Leute immer meinen, das sei so einfach. So ist es gar nicht. Manchmal ist es einfacher mit dem Fred, als mit den Beiden.


Magst du von Freds Entwicklung erzählen?

Fred wurde drei Wochen zu früh, mit Hilfe der Vakuumpumpe, geboren, weil seine Nase an meinem Becken hängen geblieben ist. Die Geburt wurde mit Medikamenten eingeleitet und die ersten 24 Stunden waren für ihn total verrückt. Er hat die ersten 24 Stunden überhaupt nicht geschlafen. Danach war er fast wie komatös und hat die Neugeborenen Gelbsucht entwickelt. 

Dann schien alles ganz normal zu sein, bis auf das ständige Erbrechen (Reflux). 

Mit 4 Monaten allerdings, war er schon mobil. Hat sich im ganzen Haus herumgerollt. Also da war er viel weiter als meine anderen Kinder. Allerdings konnte er dann erst mit 10 Monaten sitzen, mit 14 Monaten stehen und dann mit 19 Monaten laufen. Rückblickend betrachtet ist das im Vergleich zu Anderen mit der Genmutation natürlich eine gute Entwicklung, aber eben eine verzögerte. 

Die Epilepsie kam dann mit 7 Monaten. Wir waren zu der Zeit in Straßburg im Urlaub. Dort wurde Fred von einer Zecke gebissen. Heute glaube ich, dass er damals eine Hirnhautentzündung eben von dieser Zecke hatte. Fred bekam da aber kein Fieber, deshalb ist es wohl nicht aufgefallen. Fred hatte bis heute noch nie Fieber. Er hat dann 24 Stunden erbrochen. 

Ein paar Tage später hatte traten dann kurze Anfälle auf, die so ca. 15-20 Sekunden gedauert haben. Allerdings wusste zu dem Zeitpunkt niemand, was das war.

Seine Lippen sind dann immer blau geworden, er hat komisch geatmet, seine Bewegung hat gestoppt und dann hat er ganz normal weitergemacht. Ein paar Tage später ist es wieder passiert. Wir wurden dann nach Göppingen zum EEG geschickt, da wurde allerdings nichts festgestellt.
Zurück in den USA kamen diese Anfälle wieder, in einem erneuten EEG wurde aber auch nichts festgestellt. Und so ging das dann eine Weile, insgesamt wurden 4 EEGs gemacht. Die Anfälle kamen alle 4-6 Wochen. Jahre später wurde ich dann darauf hingewiesen, dass solche zyklischen Anfälle wahrscheinlich von einem Zeckenbiss ausgelöst werden können. 

Beim vierten EEG wurde eine dann Epilepsie festgestellt. Anschließend wurde auch mit Medikamenten begonnen.


Wie alt war Fred zu dem Zeitpunkt?

Bei dem vierten EEG war Fred 10 Monate alt. Die verschiedenen Medikamente, die wegen der Epilepsie ausprobiert wurden, halfen nicht. Manche haben es sogar noch schlimmer gemacht. Insgesamt wurde es dann viel schlimmer. Im Februar 1998 hatte Fred 80-100 Anfälle am Tag. Er war nicht wirklich unglücklich, er hat eine Tätigkeit kurz angehalten und nach der Pause, hat er die Tätigkeit wiederholt und es ging normal weiter. 

In einem 24 Stunden EEG wurde dann festgestellt, dass er eben ständig diese Anfälle hat. 

Und da denke ich oft an alle jungen Eltern:
Glaubt, was ihr seht. Anfangs wurde mir nicht geglaubt und ich wurde belächelt, wenn ich von den Anfällen berichtet habe. Dann auf einmal mit dem Befund hieß es, ach er hat ja doch Anfälle. 

Einmal, hier in der örtlichen Notaufnahme hat mal eine Ärztin zu mir gesagt: “Als Mutter, glauben sie immer was sie sehen. Wir, die Ärzte, sind auch nur zur Schule gegangen und haben gelernt, wir haben nicht die Erfahrung gemacht, die sie gemacht haben.”

Und so habe ich das auch ein Leben lang gemacht.

Deswegen bin ich auch heute der Meinung, dass der Zeckenbiss ausschlaggebend für die Epilepsie war. Bis heute kommen die Anfälle zurück, wenn sein Immunsystem angegriffen wird. Generell ist er super selten krank, vielleicht hatte er 5 Mal in seinem Leben eine laufende Nase. Aber wenn es ihm schlecht geht, hat er Anfälle.
Jedenfalls stoppte keines der Medikamente diese vielen Anfälle. 

Es gab ein Medikament, dass in den USA nicht verfügbar war, wir konnten es telefonisch mit Verschreibung in Kanada bestellen und bekamen es zugeschickt. Er hat die erste Tablette genommen und diese 80-100 Anfälle hörten innerhalb von 5 Stunden auf. Bis er zweieinhalb Jahre alt war, haben wir ihn mit diesem Medikament behandelt und dann kam raus, dass dieses Medikament eventuell die Augen schädigt. Dann wurde ein Retinogramm (Untersuchung der Netzhaut) zur Überprüfung gemacht. Die Untersuchung war so grauenhaft, dass ich ihm das nicht regelmäßig zumuten konnte. Fred hat nie richtig laut geheult. Bei dieser Untersuchung hat er aber geschrien wie am Spieß. Er wurde festgeschnallt und mit Klammern wurden ihm die Augen offen gehalten. Das hätte einmal im Jahr gemacht werden müssen, unter dem Medikament.
Daraufhin wurde in Absprache mit dem Arzt das Medikament abgesetzt und die Anfälle blieben überraschenderweise weg. Bis Fred 18 Jahre alt wurde. 

Das fing so an, dass Fred vor sich hin starrte. Ich erinnerte mich dann, dass so früher die Anfälle aussahen. 

Die Vorgeschichte, die meines Erachtens dazu führte: Zwei Jahre zuvor, als er 16 war, fing Fred auf einmal an wegzurennen. Fred hatte dabei die Augen weit aufgerissen und schnell geatmet. Wir hatten den Eindruck, dass er immer, wenn zu viele Reize auf ihn einprasselten, wegrannte. Meine Schwester hatte mich dann darauf gebracht, dass sie bei Migräne das Gefühl hat, dass sich ihre Augen aus dem Kopf drücken. Und da dachten wir, dass Fred vielleicht Kopfschmerzen hat und weil er sich nicht ausdrücken und damit umgehen kann, rennt er los. Mittlerweile sind wir bei sechs Mal, dass wir die Polizei rufen mussten. 

Motorisch ist Fred ja sehr fit, er kann laufen, rennen ,schaukeln, schwimmen. Wenn er rennt, dann ist er weg. Wir begannen dann erfolgreich mit einem Medikament, das half, dass Migräneanfälle nicht durchbrechen, dass sie unterdrückt werden. 

Allerdings kamen dann mit 18 die Anfälle zurück. Daraufhin wurde das Medikament, das die Migräne hemmt, erhöht, weil es eben auch bei Anfällen helfen könnte. Die Anfälle wurden aber schlimmer. 

Meine Theorie diesbezüglich ist heute, dass das Medikament gegen die Migräne für die erneuten Anfälle verantwortlich ist. Das wurde dann wieder abgesetzt. Dann ging das Medikamentenkarussell wieder von vorne los. Erst seit vergangenen Oktober haben wir ein neues Medikament, wodurch er anfallsfrei ist.


Rennt Fred denn heute noch weg?

Jein. Wenn er wegrennt, dann aus anderen Gründen. Er hat immer mal wieder Migräne und das löst nun andereVerhaltensprobleme aus. Und weil er ein ausgewachsener Mann ist, ist das schwierig. Er schmeißt meine Möbel um und reißt Sachen von den Wänden. Ich habe keine Bilder mehr an der Wand und keine Gardinen am Fenster. Wir haben, glaube ich, mittlerweile den siebten Fernseher. Seine Spezialisten sagen, dass Fred sich ablenken will, wenn er beispielsweise Schmerzen hat. Als er 16 war, hat er sich mit dem Rennen abgelenkt und jetzt hat er so eine Zerstörungswut. 

Erst seit Anfang letzten Jahres wurden wir zu einer Kopfschmerzneurologin überwiesen. Die war sehr verwundert, dass wir noch kein Notfallmedikament haben. Die Ärzte davor haben gesagt, dass das nicht möglich sei, weil derjenige spüren muss, wann die Kopfschmerzen kommen. Die Ärztin meinte aber, wenn wir Verhaltensauffälligkeiten sehen, dann können wir ein Notfallmedikament geben. Und jetzt gebe ich ihm das Medikament bei so einem Ausbruch. Das ist wie ein Lichtschalter, nach ca. 20 Minuten ist er von einem auf den anderen Moment wieder komplett wie immer.


Welche Meilensteine der Entwicklung hat Fred erreicht? 

Fred ist bezüglich der Motorik super fit. Fred hat eine bestimmte Duplikation in seinem Gentest, was nur ca. 5% aller STXBP1-Fälle zeigen. Wir haben uns immer gewundert, ob er deswegen weniger körperliche Einschränkungen als viele Andere.

Fred wandert sehr gerne, kann schaukeln, schwimmen und rennen. 

Seit er 19 Jahre alt ist, geht er tagsüber und auch nachts eigenständig zur Toilette.Nur wenn er sich nicht wohlfühlt oder in einer fremden Umgebung ist, wo er nicht weiss wo ein WC ist, kann er mal eine Panne haben.
Er kann auch lesen und schreibt mit Hilfe Unterstützter Kommunikation auch ein bisschen auf seinem Tablet.

Abgesehen von Unterstützter Kommunikation spricht er auch ein paar Worte. Wenn es ihm richtig gut geht, also, wenn er keine Schmerzen oder beispielsweise Hunger hat und es ihm so rundum gut geht, dann spricht er. Oft sagt er: “Oh Fred!” und weil er in den letzten Jahren so viel kaputt gemacht hat sagt er häufig “He wracked it” (er hat es kaputt gemacht). Letztes Jahr, völlig aus heiterem Himmel, lief er durchs Haus und wir haben einen offenen Wohnraum und da stellt er sich vor mich und sagt einfach so: “Mom, I love you!” Zum Glück war mein Mann da. Den hab ich dann gefragt, ob er das auch gehört hat. Das hätte mir sonst niemand geglaubt. Er hat auch noch nie “Mom” gesagt. Es war einfach da. Vielleicht muss ich nochmal 23 Jahre warten, bis es nochmal kommt. Das ist alles irgendwo drin. Und deshalb meine ich, dass die STXBP1 Behinderung eine expressive Behinderung ist, also es ist alles da, aber es kommt nicht raus. 


Meinst du das auch im Bezug auf das Sprachverstehen?

Ja. Genau das meine ich bei ihm. Fred hatte mal vor ein paar Jahren einen sehr engagierten Lehrer und der hatte einen Test mit ihm gemacht. Er musste eine Wortdefinition lesen, wie aus dem Lexikon und dann auf das passende Wort zeigen. Da konnte er einige Worte bis “College Level” erkennen. Das war als er ca. 15 Jahre alt war. 


Gab es für dich einen Punkt, an dem du realisiert hast, dass Fred eine Behinderung hat? 

Ja, durch das Nonverbale, dass er nicht gesprochen hat. Als Fred 3 Jahre alt war, bekam der Frühförderung und da wurde die Diagnose Autismus gestellt. Wir waren privat an das “Institute for achievement human potential” angeschlossen und dort lief ein Intensivprogramm, an dem Fred teilnahm. Er bekam dann auch Logopädie und Ergotherapie. 

Er war in einem Kindergarten der Organisation “ARC” (association for retarded citiziens), das ist vergleichbar mit der Lebenshilfe in Deutschland. Mit Wortkarten und Buchstabenkarten wurde ihm dann beigebracht sich schriftlich auszudrücken. Manchmal hat er auch totalen Quatsch geschrieben. Interessanterweise hat mir jemand dann ein Buch über Schlaganfälle gegeben. Da hieß es, je nachdem wo ein Schlaganfall im Gehirn ist, schreibt oder erzählt die betreffende Person auch Quatsch. Und in einem PET Scan (macht Stoffwechselprozesse im Gehirn sichtbar und zeigt wo viel/wenig/keine Aktivität ist) konnte man sehen, dass der Herd von Freds Anfällen genau in diesem Zentrum lag, das bei Schlaganfällen diese Symptomatik macht. Also Quatsch erzählen/schreiben. 


Fred lebt bei euch zuhause, richtig?

Ja


Wie unterscheiden sich dazu die Bedingungen der USA zu Deutschland?

Das Problem ist das Erwachsenenalter. Zurzeit geht es noch. Also bis Menschen mit Behinderung 21 Jahre alt sind, sind die hier im Schulsystem, danach werden sie aus dem System gekickt. Dann gibt es traurigerweise keinen Anspruch auf eine Einrichtung oder ähnliches, nur generelle Unterstützung. 

Man fängt buchstäblich von vorne an. Also wir mussten neu beweisen, dass Fred behindert ist. Obwohl er ja schon sein Leben lang behindert war. 

Wir wollten ihn dann nach der Schule in einem Tagesprogramm anmelden. Aber zu dem Zeitpunkt war das mangels Gelder nicht möglich.

In Pennsylvania gibt es öffentliche Gelder und man hat einen Mindestanspruch an Leistung. Dieser Mindestanspruch würde nur den Bedarf von 3-5 Stunden 3mal die Woche abdecken. Aber Fred braucht Vollzeitbetreuung, er ist so aktiv und braucht einfach immer jemanden. Auf jeden Fall haben wir nicht genug Gelder. Er bekommt jetzt 37,5 Stunden Betreuung die Woche, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele Stunden eine Woche hat, ist das nicht viel.


Das ist aber keine Gruppe?

Nein, das ist eine betreuende Person und die kommt nach Hause. Es ist ein bisschen verrückt. In der USA ist das zurzeit so, dass der Anschluss an die “Community” und das Zuhause das höchste Ziel sein soll. Dass man die Menschen mit Behinderung nicht aus den Familien reißt. 

Es ist auch nur eine Betreuung durch Fachkräfte möglich, wenn wir Eltern was unternehmen möchten. Da geht kein Babysitter mehr, wie früher, als Fred noch klein war. Das ist ein erwachsener, starker Mann, wenn er ausrastet oder wegrennt muss man wissen was zu tun ist. Da kann man keinen Teenager aus der Nachbarschaft zum aufpassen holen. 

Wir machen deshalb als alles mit Fred. Wenn wir Essen gehen, Urlaub machen, Fred kommt mit. Da gibt es hier in den USA keinen Anspruch auf Betreuung oder Ähnliches.
Wir stehen zwar auf einer Warteliste für genügend Gelder für eine Einrichtung, aber das ist durch den aktuellen Trend schwierig. Man möchte die Behinderten zuhause lassen, in ihrer Umgebung. Was viele Familien machen ist, dass sie Eltern sich zusammentun, ein Haus kaufen und dort eine Art WG gründen, das Geld Aller in einen Topf schmeißen und das so organisieren. Nur dazu muss auch gesagt werden, dass es an Fachkräften, die solch eine WG betreuen können, schlichtweg fehlt.

Seit August haben wir wieder eine feste Person als Betreuung. Von April letzten Jahres bis August war es schwierig, da hat es gar nicht geklappt. Wir brauchen eben eine Person, die mithalten kann, die auch vorausdenkt. Fred rennt, schaukelt und schwimmt. Wenn er was von Interesse sieht, dann ist er spontan weg. Gerade sind es runde Gegenstände, Bälle, alles was aussieht wie Bälle, da rennt er hin. Da schaut er nicht ob ein Auto kommt. 

In der Zeit, in der wir niemand passendes für die Betreuung haben, übernehme ich das. Und da haben wir halt Glück, dass mein Mann genug verdient und ich zuhause bleiben kann. Dass ich nicht berufstätig sein muss. Da frage ich mich wie das Alleinerziehende machen. Das ist fürchterlich. 

Jetzt sind wir halt auf einer Warteliste. Aber die Plätze für Einrichtungen werden halt immer weniger, weil die Menschen in ihrem Zuhause bleiben soll. 


Wie sieht ein typischer Tagesablauf aus?

Die Betreuerin kommt morgens und je nach Wetterlage geht sie mit Fred raus. Fred geht immer sehr gerne raus. Also auch bei den heutigen -10 Grad geht er auch raus in den Park. Er liebt Spielplätze um dort zu schaukeln. Im Sommer geht er immer schwimmen. 


Hat er Therapien, wie Logopädie, Ergotherapie oder Physiotherapie?

Dadurch, dass er durch öffentliche Gelder ein IPad hat, hat er ein paar Stunden Kontakt mit der Logopädin. Das ist stundenweise alle paar Monate. 

Aber ansonsten hat er keine Termine.


Inwiefern spielen die Geschwister eine Rolle in Freds Alltag?

Die Kinder sind beide aus dem Haus und gehen zum College. Für Fred ist es schwierig. Er weiß, dass die anderen ausgezogen sind und er will auch als Erwachsener anerkannt werden.
Auch früher schon war das immer wieder mal schwierig. Beispielsweise mussten wir ihn manchmal zu dritt festhalten, wenn er um sich geschlagen hat. Und danach war Fred sauer, weil sein Bruder, der kleine Bruder war und der ihn in seinen Augen nicht festhalten darf. Da hat Fred dann auch Sachen seines Bruder kaputt gemacht, als Strafe für ihn sozusagen. Das ist dann sehr schwierig. 

Abgesehen davon ist auch sehr viel von meiner Zeit für die Betreuung von Fred draufgegangen. Die beiden Geschwister haben immer sehr viel gemacht, waren Sport aktiv und haben im Orchester gespielt. Dorthin mussten wir immer Fred mitbringen, wo auch immer wir hingegangen sind, Fred war auch dabei. Fred ist da auch sehr gerne mit, vor allem zum Orchester. 

Phasenweise haben sich die Geschwister von Fred auch ihren Freunden gegenüber geschämt. Fred hatte sich eine zeitlang immer mal ausgezogen. Da waren dann alle im Garten und haben gespielt und Fred hat sich ausgezogen. In den USA ist das auch einfach völlig daneben. Das ist eben peinlich für die Geschwister, sie wollten gerne normal sein.

Vor einiger Zeit hat meine Tochter sich als Freiwillige bei der STXBP1 Foundation gemeldet um dort zu helfen. Das finde ich super. So hilft sie da aus und ist sehr aktiv. 


Welche Lieblingsbeschäftigung hat deine Fred?

Wir wandern sehr gerne und oft. Im Wald zieht er immer lose Äste oder Ähnliches aus den Bäumen. Hier gibt es auch viel öfter solche lianenähnliche Wurzeln, die in den Bäumen hängen, die greift er sich gerne. 

Ansonsten liebt er eben alles was rund ist. Sein IPad mag er auch sehr gerne und wir puzzeln viel.
Was Fred ganz wichtig ist, dass es nicht zu babyhaft sein darf. Das hasst er. In der Schule hat er es schon gehasst, wenn es ihm zu “babyish” war. Zum Beispiel hatten sie eine Musiklehrerin, die eher sowas wie “old mac donald had a farm” mit den Schülern gesungen hat und er hat im Gegensatz dazu zuhause Symphonien und Konzerte gehört. Das fand er furchtbar. Er möchte einfach als Erwachsener gesehen werden. Er reagiert auch ganz anders, wenn Leute ihn wie ein Kleinkind behandeln. Als würde er sich denken: du willst Kleinkind, dann kriegst du Kleinkind. Er zeigt in solchen Situationen auch viel mehr Auffälligkeiten. 


War er im Kindergarten?

Ja, er war ein Jahr im Kindergarten. Dann hatten wir mit ihm dieses Heimprogramm gestartet. 

Als er 7 war, ist seine Schwester mit dem gelben Schulbus abgeholt worden, weil sie in die Vorschule gekommen ist. Und Fred wollte auch mit dem gelben Schulbus fahren, weil er ja älter ist. Dann wollte er zuhause nicht mehr mitmachen und hat fast gestreikt. 

In den USA muss man mit 7 Jahren entscheiden ob man eine öffentliche Schule für sein Kind will oder Heimbeschulung. Er wurde dann in mit fast 8 Jahren in eine Sonderschule eingeschult und dort war er dann bis er 21 war. Dann konnte er mit seinem gelben Schulbus fahren. Allerdings blieb er während der Fahrt nicht sitzen. Letztendlich haben wir dann ein Gestell gekauft womit er angeschnallt wurde. Das konnte er wiederum nach einiger Zeit öffnen. 

So ist es oft, zum einen freut man sich, dass er Fähigkeiten entwickelt, zum anderen ist es dann auch ein Problem. Er hat auch einen völlig siebten Sinn für offene Türen. Bei uns sind die Türen verschlossen, wegen dieser Wegrenn Problematik. Er probiert nicht jeden Tag ob die Türen verschlossen sind, aber an genau dem Tag, an dem sie mal nicht abgeschlossen ist, dann öffnet er die. Zum Glück rennt er dann nicht direkt los. Er öffnet sie und steht dann da, so auf die Art “Mama guck mal, die Tür ist nicht abgeschlossen.” 


Hast du Wünsche für die Zukunft?

Hier ist es so eine Rennerei und Forscherei mit den Ärzten. Fred hat auch häufig Bauchschmerzen und dann eben Verhaltensauffälligkeiten. Da sind wir schon vom Neurologen zum Psychiater und wieder zurückgeschickt worden. Niemand hat sich zuständig gefühlt. Jetzt habe ich rausgefunden, dass es Neurogastrologen gibt. Aber das muss man eben selbst herausfinden. Das sagt einem niemand.
Da würde ich mir schon eine Veränderung wünschen. Ich habe letztens einen Artikel gelesen, da ging es um den ”holistic approach” (Den Anspruch der Ganzheitlichkeit). Dass die Ärzte sich eben austauschen, alleine schon die Blutwerte. dass Sachen doppelt gemacht werden müssen und ich nicht einen ganzen Ordner immer mitschleppen muss, das wäre mein Wunsch.

Ansonsten wünsche ich mir mehr Verständnis von der Gesellschaft. Wenn ich von Freunden höre, dass eine Tochter ein Kind erwartet oder bald heiratet. Das sind eben Sachen, die wir mit Fred nicht erleben können. Das schmerzt einfach und das wird wenig gesehen.

Mein Mann und ich sind ja jetzt in unseren 50ern. Und bei Allen um uns herum sind die Kinder ausgezogen. Die machen Urlaube oder bauen die Häuser um. Mein Haus hat Löcher in den Wänden und keine Vorhänge. 

Bei solchen Sachen würde ich mir wünschen, dass unsere Situation mehr gesehen wird.
Wobei ich mich oft, bei euch aus der Gruppe, mit kleinen Kindern mit solchen Problematiken, zurückhalten will. Natürlich ist es witzig, wenn ein Fünfjähriger auf den Tisch klettert. Dass es aber nicht mehr ganz so lustig ist, wenn ein 24 jähriger auf dem Tisch steht und versucht deine Lampe aus der Decke zu reißen. Das ist dann eben nicht mehr lustig.

Und oft erwähne ich das dann gar nicht, weil ihr es ja genießen sollt, wenn sie klein sind. Wir haben zu der Zeit auch viel gelacht. Da denkt man nicht soweit voraus. 


Gibt es etwas, was du dir wünschen würdest, was man dir vor 15 Jahren hätte sagen sollen?

Das mit der Erwachsenenplanung. Mir war einfach nicht bewusst, wie schwierig das Erwachsenenalter sein wird. Wobei das viel mit den Bedingungen auch hier in den USA zu tun hat. In Deutschland ist das einfacher. Da hat man Anspruch auf Sozialleistungen, die hier erkämpft werden müssen. Dann hätten wir ihn vielleicht früher auf eine Warteliste für eine Einrichtung setzen lassen. 

Mein Mann und ich müssen körperlich fit bleiben. Mein Mann sagt immer, wie stellen die sich das denn vor. Es steht eben im Vordergrund, dass die Menschen mit Behinderung in der Gemeinde und der “Normalbevölkerung” integriert werden sollen, aber es gibt eben keinen konkreten Plan oder eine Umsetzung dafür. Das klingt alles sehr schön. Aber die “Normalbevölkerung” ist ja auch nicht bereit. Wenn man mit einem Zweijährigen in den Supermarkt geht und der dort ausrastet ist das vielleicht verständlich. Aber wenn ein Vierundzwanzigjähriger im Supermarkt die Regale ausräumt, ja… 

Zum Teil haben die Leute einfach Angst, was auch verständlich ist. Aber das Unverständnis insgesamt ist eben sehr groß.

Letztens musste seine Betreuerin ihn von der Straße ziehen, weil ein Blatt so auf der Straße gerollt ist, ähnlich einem Ball und dann ist er auf die Straße gesprungen. Er wollte den vermeintlichen Ball haben. Da kam dann ein Auto… So passiert das eben. Das war hier in der Nachbarschaft und hier fahren die Autos langsam. Wäre das woanders passiert, hätte das vielleicht ganz anders ausgesehen. Und irgendwann kann ich dann auch nicht mehr so schnell rennen oder reagieren. 

Manchmal, und das hört sich jetzt blöd an, aber manchmal beneide ich die Leute, deren Kind im Rollstuhl sitzt. Da weiß man eben, der ist jetzt dort und wenn ich mich kurz weg drehe und wieder umdrehe, dann ist der immer noch da. Fred ist auch schon in Supermärkten abgehauen, dann gabs einen Supermarkt “Lockdown” bis er wieder aufgetaucht ist. Solche Sachen haben wir häufig mitgemacht.
Das ist eben die eine Seite des körperlich Fitten, aber auf der anderen Seite können wir eben alles mit ihm machen, schwimmen wandern und solche Sachen. 

Damals als die Kopfschmerzen anfingen, da waren wir am Strand, als er plötzlich losgerannt ist. Das war schrecklich. Wir haben gebrüllt, Leute angesprochen: “Können sie ihn schnappen?” Da gucken die Leute dann nur. Fred ist dann vom Strand runter und in die Straßen gelaufen. Eine Frau hat versucht ihm hinterherzurennen. Die war näher dran an ihm und ich habe ihr zugerufen, wenn jemand kommt, soll derjenige Fred festhalten. Dann kam ein junger Mann Fred entgegen und die Frau hat dem dann zugerufen: “Können sie den festhalten?” Aber Fred hat ja auch ausgesehen, wie ein normaler Teenager und der Entgegenkommende hat gefragt wieso er das tun soll. Als er ihn dann in eine Einfahrt gedrängt hatte, konnten wir es erklären. Aber es waren hunderte Leute am Strand und nur die eine Frau hat sich bewegt. Fred wäre schnell weg gewesen und wir hätten ihn so schnell nicht wiedergefunden. 


Bist du auch stolz darauf, dass du das jeden Tag meisterst?

Mh… ja. Ich bin schon einerseits stolz. 

Ich habe einen starke Verbindung in meiner Kirchengemeinde und da auch Unterstützung von anderen Frauen. Und auch ein bisschen die Haltung, es gibt keine Alternative. Ich muss da durch. Man macht, was man machen muss. Aber ich würde schon sagen, dass man gucken muss, dass man auf sich selbst achtet. Wenigstens im kleinen Rahmen, nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Auch der Austausch ist wichtig und dass man Leute hat, mit denen man Interessen teilt. Ich habe eine zeitlang Yoga gemacht, aber das ist ein bisschen schwierig, durch COVID. Das wird jetzt online angeboten, aber das geht hier zuhause nicht. Dann kommt Fred rein und stolpert über den Computer, das funktioniert dann nicht. Der Samstagmorgen in meinem Yoga Studio fehlt mir schon sehr, covidbezogen. 


Was möchtest du anderen Familien/Eltern von Kindern mit einer Behinderung mitgeben?

Findet Gleichgesinnte. Das finde ich sehr hilfreich. Und dann schauen, was andere Leute machen. Die Zukunft planen ist für mich auch ein großes Thema.. 

Wir haben zum Glück das Privileg, dass mein Mann genug Geld verdient und ich das alles machen kann. Ich kann generell das ganze Gesundheitswesen und Sozialwesen hier nicht fassen.

Abgesehen davon ist es Fred unheimlich wichtig, als Erwachsener wahr- und ernstgenommen zu werden. Ich glaube, dass unsere Kinder hochintelligent sind, es aber nicht ausdrücken können. Sie nehmen alles auf, wie ein Schwamm, aber sie können es nicht ausdrücken. 

Fred versteht ja zum Beispiel auch deutsch und er kann logisch Denken. Ich sage auch immer, dass ich mir sicher bin, dass Fred jede Schaukel, auf der er schon saß kennt und da wieder hinfinden würde. Er hat einen super Orientierungssinn. 

Aber er kann es eben nicht ausdrücken oder es kommt nicht mit Worten aus ihm raus, sondern mit Verhalten. Es zeigt sich eben viel im Verhalten.
Auch wenn sie noch klein sind. Sie haben die Worte nicht und wir müssen lernen, was will das Kind damit ausdrücken. Beispielsweise nimmt er meine Hand, also weiß ich, er braucht etwas.
Verhalten ist Kommunikation.

Noch ein Beispiel. Fred mag es nicht, wenn draußen auf seiner Schaukel Schnee liegt. Aber bei uns sind ja alle Türen abgeschlossen, also steht er an der Glastür, reibt die Scheibe. Da könnte man jetzt auch denken, was macht der da, ist das ein Tick? Nein, das ist Verständigung. Er will eben den Schnee von der Schaukel haben. Also, dass man in solchen Situationen eben weiterdenkt. Oder beim Spazieren gehen vorausdenkt. Dass ein Stein, der aussieht wie ein Ball eventuell geworfen werden könnte. Sprich, man muss den Stein vorher sehen und ihn dann aus dem Weg räumen. 

Sie sehen die Welt einfach mit anderen Augen.
Es ist so sehr wichtig, dass wir unsere Kinder SEHEN und wahrnehmen, was sie mit ihren Verhaltensweisen ausdrücken wollen.

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