Vier Wochen Exklusivzeit

Vier Wochen Exklusivzeit

Bereits 2020 war ich für eine “neuropädiatrische Komplexleistung” mit unserer Tochter vier Wochen stationär in Norddeutschland. Sie lernte dort mit ihren dreieinhalb Jahren stehen, schaffte ihre ersten Schritte mit dem Postwalker und bekam einige Hilfsmittel verordnet. So fuhren wir mit Rezepten für einen Rollstuhl, Orthesen, einem Wahrnehmungsbody, dem besagten Postwalker und einem Stehständer nach Hause. Der Aufenthalt war insgesamt ein riesen Erfolg, auch wenn ich teilweise zwiegespalten war, gerade was die Organisation anging.
Dieses zweigeteilt sein sollte sich dieses Mal fortsetzen. 

Doch erst einmal zu unserer familiären Organisation. Anders als bei unserem ersten Mal, teilten wir als Mama und Papa dieses Mal den Aufenthalt auf. So konnten wir exklusive Elternzeit mit unseren beiden Kindern verbringen, konnten beide in der Reha mitwirken und unsere Tochter hatte die volle Aufmerksamkeit um vor Ort, neben den Therapien auch Dinge, wie beispielsweise das Treppensteigen zu üben. 

Zunächst blieb ich mit dem Geschwisterkind zu Hause, nach eineinhalb Wochen fuhren wir für eine “Übergabezeit” von drei Tagen in den Rehaort. Danach fuhr das Geschwisterkind mit dem Papa zurück nach Hause und ich blieb mit unserer größeren Tochter in der Reha. 

Vor der Aufnahme wurde uns bereits telefonisch mitgeteilt, dass eine altersunabhängige Maskenpflicht besteht. Unsere Tochter toleriert keine Maske, diese wird nach circa 10 Sekunden aus dem Gesicht gerissen und darf dann gerne kunstvoll durch den Raum fliegen. Wir können ihr weder erklären welchen Nutzen die Maske hat, noch sie davon abhalten, die Maske aus dem Gesicht abzuziehen. Es war also klar, dass es auf eine Maskenbefreiung hinauslaufen würde. Dazu wurden wir am Telefon nicht weiter aufgeklärt.
So kam es in den ersten Tagen des Aufenthaltes zu einigen Diskussionen. Zunächst wurde uns erklärt, dass das Tragen einer Maske die Voraussetzung für Gruppentherapien und das Betreuungsangebot ist. Diese Angebote müssten also für unsere Tochter ersatzlos wegfallen. Es sollte dann geklärt werden, wie das in unserem konkreten Fall aussehen könnte, da unsere Tochter zum Zeitpunkt des Rehabeginns bereits vollständig geimpft war und wir auch jederzeit bereit für einen Schnelltest waren. In der Aufnahmevisite wurde dann deutlich, dass die Oberärztin weder zu einer Regelung für geimpfte Kinder, noch für einen Kompromiss bereit war. Sie brachte das Beispiel an, dass wir als Erwachsene ja auch trotz Impfung Masken tragen. Allerdings ist in unseren Augen dieser Vergleich hinfällig, da es unserer Tochter aufgrund ihrer Behinderung nicht möglich ist eine Maske zu tragen. 


Wir sehen es ganz klar als Diskriminierung, da unsere Tochter in einer Klinik für Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer Behinderung von gewissen Angeboten kompromiss- und ersatzlos ausgeschlossen wird. 


Wir sind uns absolut im Klaren darüber, dass es in einer solchen stationären Einrichtung klare Regelungen geben muss, jedoch sehen wir die uns entgegengebrachte Kompromisslosigkeit und das gebrachte Beispiel sehr kritisch. 

In einem Arztgespräch mit der zuständigen Stationsärztin sind wir dann hingegen auf sehr viel Verständnis gestoßen. Wir wurden ernst genommen und ein wirklicher Kompromiss stand am Ende des Gesprächs. So konnte unsere Tochter als Gruppentherapie in die Schwimmgruppe eingeteilt werden, dort sind Masken so oder so hinfällig. Insgesamt wurden zwei Stunden Gruppentherapie als eine Einzeltherapie eingeplant. Somit fiel das Therapieangebot nicht ersatzlos weg, dank des Engagements der Stationsärztin und unserer Mühen. 

Und genau das ist ein wichtiger Punkt für mich. Als Eltern kämpfen wir so häufig für unsere Kinder, sei es mit Krankenkassen, Hilfsmittelversorgern oder auch in unserem Umfeld. Ein solcher Aufenthalt, so dachte ich, sollte unter anderem auch eine Art Pause davon sein. Ein zur Ruhe kommen, die Möglichkeit sich auf das Kind, gegebenenfalls auch auf das Geschwisterkind zu konzentrieren und die aktuellen Ziele im Fokus zu halten. Dass solch ein Aufenthalt auch von Kämpfen und Diskussionen begleitet ist, stimmt mich etwas nachdenklich. 

So startete unsere Tochter mit ihrem engagierten und liebevollen Papa in den Aufenthalt. Der Therapieplan war gut gefüllt und unsere Tochter konnte mit großen Schritten den Zielen entgegen gehen, die wir ins Auge gefasst hatten. 

In der Aufnahme wurden diese Ziele abgeglichen und das Therapieangebot erstellt. Im Fokus des Aufenthaltes stand die Unterstützte Kommunikation (UK). Vor einiger Zeit begannen wir im Rahmen der Logopädie zu Hause mit UK und der stationäre Aufenthalt war ein guter Zeitpunkt einen Talker, also ein Tablet mit App zu erproben. Dazu stand nahezu täglich Ergotherapie auf dem Plan. 

An dem Gangbild unserer Tochter wurde in der Physiotherapie gearbeitet. Seit Oktober letzten Jahres kann sie frei laufen. Aufgrund der Ataxie (Bewegungsauffälligkeit, die sich bei ihr vor allem in zittrigen Bewegungen zeigt) ist das Gangbild unserer Tochter eher breitbeinig und staksig. Durch die Arbeit an der Rumpfstabilität sollte sich das Gangbild verbessern und auch das Treppensteigen flüssiger werden. Durch die Schwimmgruppe, die drei Mal wöchentlich stattfand, wurde das Gleichgewicht und die Körperwahrnehmung geschult. Abgesehen davon hatte unsere Tochter einen riesigen Spaß im Wasser. Ganz spannend zu sehen war, dass sie nach den ersten zwei Wochen im Wasser immer ruhiger und auch konzentrierter wurde. Anfangs planschte sie wild im Wasser und schrie vor Freude, dann konnte sie sich immer mehr auf Positionswechsel und Spürangebote einlassen. Das war wahnsinnig toll zu sehen, denn eine Frequenz von drei Mal Schwimmbad die Woche ist zu Hause natürlich utopisch. 

In der Musiktherapie konnte unsere Tochter einer weiteren Lieblingstätigkeit nachgehen und wurde spielerisch an die verschiedensten Instrumente herangeführt. In der Heilpädagogik wurden viele Elemente der Musiktherapie aufgegriffen, aber auch spezielle Spielangebote gemacht. 


Ausnahmslos alle Therapeuten waren unglaublich engagiert, freundlich und motiviert. Auch wenn es mal zu Therapeutenwechseln kam, wurde an der vorherigen Stunde angeknüpft und auch Wünsche und Ideen von uns als Eltern wurden gerne aufgenommen und umgesetzt. 


Was hat sich also in der Zeit verändert?

Im Bereich UK kam während des Aufenthaltes ein Mitarbeiter der Talker Firma, der mit uns den auf unsere Tochter angepassten Talker durchgesprochen hat. Dazu konnte der Antrag und die Rezeptierung komplett über die Klinik laufen. Hätten wir zu Hause, also ambulant einen Talker beantragt, wäre das über die einzelnen Anlaufstellen gegangen, also Therapeuten, Ärzte und Talker-Firma. Das wäre deutlich mehr Aufwand gewesen und hätte mehr Zeit gekostet. Auch die intensive tägliche Ergotherapie, in der der Talker immer im Fokus stand, wäre so ambulant kaum möglich gewesen. So konnte unsere Tochter beispielsweise das Auswählen zwischen Spielangeboten, welches sie schon analog mit Hilfe von Bildkarten umsetzen konnte, auf den Talker übertragen. Aber auch die Worte “nochmal”, “fertig” und “will” lernte sie über den Talker zu äußern und auf Spielangebote anzuwenden. Das ist ein Wahnsinns Schritt, vor allem im Hinblick auf das Äußern ihrer Wünsche und Bedürfnisse im Alltag. 

Wieder zu Hause merken wir wie sehr sich unsere Tochter auch im Hinblick auf die Mobilität verändert hat. So ist ihr das Laufen am Hang vorher viel schwerer gefallen, sie schafft jetzt deutlich weitere Strecken ohne auf die Knie zu sinken, wenn es uneben, steil oder stufig wird. Beim Steigen von Treppen führt sie ihre Hand jetzt am Handlauf entlang und läuft Treppen flüssiger und auch züger hoch und runter. 


Ganz abgesehen von den wirklich deutlichen Fortschritten und mindestens ebenso wichtig, hatte unsere Tochter bei jedem Therapieangebot unglaublich viel Spaß. Sie hat alles sehr gerne mitgemacht und war mit der Zeit immer konzentrierter und aufmerksamer in den Therapien. 


Ich denke, dass ihr auch der strukturierte Tagesablauf gut gefallen hat, vor allem auch die vielen anderen Kinder und Familien. Es gab immer viel zu sehen und zu hören, vom Flur bis in den Speisesaal warteten immer kleine Abenteuer. 


Und da ist er wieder, der Zwiespalt. 

Auf der einen Seite der Spaß und die Freude mit der unsere Tochter jedem Angebot entgegen trat und so sehr profitierte. Auf der anderen Seite ich. Vorweg sei gesagt, dass es für mich eine riesen Erleichterung war, die ersten zwei Wochen an den Papa abgeben zu können. Abgesehen von der Exklusivzeit mit dem Geschwisterkind, war ich unfassbar froh nicht vier Wochen stationär dort sein zu müssen. Ich glaube, ich bin nicht der Typ für stationäre Aufenthalte jeglicher Art. Ob das an verschiedenen Krankenhausaufenthalten mit jeweils beiden Kindern (teilweise im Wochenbett) liegt oder generell einfach nicht mein Ding ist, weiß ich nicht. 

Jedenfalls tue ich mir allein mit dem Aufenthalt schon schwer, mal ganz abgesehen von Diskussionen über Maskenpflicht, Therapiefrequenz oder dem schweren Mamaherz wegen des Geschwisterkindes zu Hause.  

Nach unserem Wechsel zur Halbzeit des Aufenthaltes waren die Tagespläne weiterhin gut gefüllt. Zwischenzeitlich hatten wir einmal nachgehakt, als es zwei Tage gab, an denen nur zwei Therapien stattfanden. Bis dahin waren immer drei bis sogar fünf Termine pro Tag eingeplant. 

Zu Beginn der vierten Woche wurde der Therapieplan leerer und daraufhin ließ ich mir den Plan der letzten drei Tage zeigen. Aufgrund des hohen Krankheitsstandes und des sowieso bestehenden Personalmangels sahen die letzten Tagespläne des Aufenthaltes leerer aus, als das die Wochen davor der Fall war.

In Anbetracht der Lage, dass unsere Tochter schon so deutlich profitiert hatte und das Geschwisterkind jeden Tag teilweise tränenreich der Meinung war “Mama, du musst jetzt nach Hause kommen, bitte!”, packte ich nach einem sehr verständnisvollen Gespräch mit der Stationsärztin die Koffer und fuhr mit meiner Tochter nach Hause. 

Es war alles in allem wirklich ein toller Aufenthalt für unsere Tochter und auch die bereits erwähnte exklusive Zeit mit jeweils einem Kind war auch für uns als Eltern kostbar. 

Wir werden wieder zur “neuropädiatrischen Komplexleistung” in den Norden Deutschlands fahren, vielleicht in einem Spätsommer. Wenn man auch die Gegend richtig genießen kann und sich mit schönen Ausflügen die Zeit vertreibt. Diesbezüglich hat die kleine Stadt bei Hamburg doch einiges zu bieten. Sofern man mit dem Auto dort ist, kann man sich die kleineren Städte an der Elbe und verschiedene Freizeitattraktionen in der Nähe anschauen. Aber auch fußläufig gibt es ein schönes Bistro mit Sandstrand im Außenbereich direkt an der Elbe und mehrere schöne Spielplätze. Natürlich lockt auch das Meer, das in unter zwei Stunden Fahrtzeit zu erreichen ist. 

Wir lassen jetzt aber erst einmal alle Eindrücke wirken und genießen wieder die gemeinsame Familienzeit.

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